Von Menschen, Tieren und anderen Kreaturen
Familientreffen
Martin Ulrich
Es riecht immer noch nach Regen. Petrichor wird dieser Geruch genannt, soviel ich weiß. Die Pflanzen stoßen in Trockenzeiten ein Öl aus, das von Steinen absorbiert wird. Das Regenwasser vermischt sich später damit und erzeugt diesen ganz speziellen Duft. Es riecht irgendwie sauber, beruhigend. Ich frage mich, ob der Geruch bei den Pfützen auf dem Kiesweg stärker ist. Überprüfen will ich es aber nicht, ich muss den anderen nicht noch mehr Gründe geben, mich zu meiden.
Ich lege den Kopf in den Nacken. Der Himmel ist immer noch voller Wolken. Das Weiß im Osten geht beinahe nahtlos in das Dunkelbau im Westen über. Nur an manchen Stellen gibt eine dunkle Wolke den Blick über ihre Ränder auf eine hellere frei. Die Ränder sehen aus wie Wollbüschel, die jemand auseinandergepflückt hat. Da oben muss sich einiges angestaut haben, vielleicht regnet es am Nachmittag wieder?
Ich ziehe die Wolljacke fester um mich. Mein Blick fällt auf eine Amsel, die mit ihren dünnen Füßen durch das kurzgeschnittene Gras hüpft. Alle paar Sprünge stößt sie ihren gelben Schnabel in die Erde und schiebt Blätter zur Seite, die der Regen von den Ästen gerissen hat. Nach jedem Satz hält sie jedoch zuerst den Kopf still, als würde sie mich beobachten, um bei einer Bewegung von mir Reißaus zu nehmen. Still verfolge ich, wie sie zwischen den schmiedeeisernen Kreuzen umherspringt. Unter dem Walnussbaum wird sie schließlich fündig. Als sie sich einige Nusssplitter in den Schnabel ge-klemmt hat, fliegt sie mit schnellen Flügelschlägen davon.
Für diese Splitter kann die Amsel dem Raben danken, der vor einigen Minuten ein paar der Nüsse geknackt hat. Erst ist der schwarze Riese zwischen den Kreuzen herumstolziert und hat auf dem Grab meiner Mutter im Erdboden herumgestochert. Als er nicht gefunden hat, wonach er gesucht hatte, hat er sich auf den Walnussbaum gestürzt. Mit beherzten Schlägen mit dem Schnabel hat er die Schale aufgebrochen und sich dann die Nüsse geschnappt.
Ich mag diesen Ort. Ich versuche, zumindest einmal in der Woche aus der Stadt herauszufahren, um meine Mutter zu besuchen, einige Zeit hier auf der Bank zu sitzen und die Vögel zu beobachten. Natürlich wissen sie, dass ich hier bin, doch wenn sie erst einmal gemerkt haben, dass man sie in Ruhe lässt, gehen sie wieder ihrem normalen Tagewerk nach. Vögel tratschen nicht hinter deinem Rücken. Wenn man ihnen nichts tut, tun sie einem auch nichts. Das unterscheidet sie von uns.
Hinter mir höre ich das Klacken von kleinen Klauen auf den Ziegeln der Friedhofsmauer. Ich schiele vorsichtig zur Seite. Der Rabe ist zurück, er hat zwei Kumpanen mitgebracht. Während sie auf den Ziegeln auf und ab schreiten, beobachten sie mich. Nachdem sie mich ihrer Prüfung unterzogen haben, fliegen zwei von ihnen zum Walnussbaum, während sich der dritte auf das Kreuz meiner Mutter setzt und mich vorsichtig im Blick behält.
Auch das schätze ich an den Vögeln. Sie machen keinen Unterschied zwischen den Gräbern. Für sie ist jeder Wurm, den sie aus dem Boden ziehen, gleich viel wert. Kein Grashalm wächst ihnen zu schief. Wer hier unter ihnen in der Erde liegt, interessiert sie nicht. Auch das unterscheidet sie von den Menschen im Dorf. Die haben um meine Mutter und mich schon seit Jahren einen großen Bogen gemacht, und auch ihr Grab besucht keiner von ihnen. Als wäre es ihnen unangenehm, dass sie selbst nach ihrem Tod noch hier ist.
Bis heute verstehe ich die Leute hier nicht. Auf der einen Seite wollen sie mit der Natur im Einklang leben. Jedes Jahr feiern sie den Almabtrieb, Erntedank, das Narzissenfest, die Palmweihe und noch viele weitere Feiertage. Meine Mutter haben sie jedoch wegen ihrer Natur verachtet. Als Vater bei dem Autounfall gestorben ist, hatten sie uns noch bemitleidet. Doch kaum war sie mit Amelie zusammengezogen, hatte der Tratsch hinter vorgehaltener Hand begonnen. Wenn sie mich an der Hand zur Schule gebracht haben, hatte man nie wissen können, ob es nur das Rauschen der Blätter, oder das Tuscheln der Menschen gewesen war, das uns verfolgt hat. Erst habe auch ich gedacht, dass mit Mutter etwas nicht gestimmt hat. Auch ich habe ihr und Amelie eine Zeitlang Unrecht getan. Damals wusste ich es nicht besser, ich war schließlich noch klein. Sie waren immerhin so anders als die anderen Ehepaare im Dorf. Und alle sagten, dass sie unnatürlich seien.
Erst als ich älter wurde, hat sich mein Blick geändert. Ich weiß es noch, es passierte bei der Vorbereitung für das Narzissenfest. Ich hatte schon einen großen Strauß gesammelt, als es mich wie ein Blitz traf. Wenn ich die Natur wirklich liebte, warum hatte ich diese Blumen dann gerade aus der Erde gerissen? Warum zwickten wir so vielen Büschen ihre Zweige ab, um einen Palmbuschen zu binden, den wir ein paar Wochen später wegwerfen? Und warum feierten wir die Natur immer nur dann, wenn wir sie schön anzusehen fanden? Keiner hier im Dorf freute sich über Spinnweben, obwohl der Tau glitzerte, wenn er sich darin verfängt. Oder über den seltenen Anblick eines jungen Fuchses, der sich am Waldrand austobt. Wie kann man von sich behaupten, im Einklang mit der Natur und der Umwelt zu leben, wenn man Teile davon verabscheut?
Eine Nuss knallt auf die Ziegel der Friedhofsmauer. Kurz darauf stürzt der Rabe herbei, der sie fallen gelassen hat und pflückt mit dem Schnabel die Nuss aus der Schale. Der Rabe, der mich beobachtet hat, scheint mir mittlerweile genug zu vertrauen, dass er mich kurz aus den Augen lässt. Mit schlagenden Flügeln hüpft er auf den Boden und zerrt einen Wurm aus der Erde. Solange die Raben bedenkenlos über das Grab meiner Mutter laufen und sich die Würmer durch eine Erde graben, die genauso aussieht wie auf allen anderen Gräbern, hat die Natur meine Mutter nicht von sich gestoßen. Also kann die Natur meiner Mutter gar nicht so unnatürlich gewesen sein. Ich seufze erleichtert auf. Genau deswegen mag ich diesen Ort.